Nichts geht über Fact Checking. Oder?

Jeder spricht über „Fact Checking“. Doch ist Fact Checking wirklich so wichtig? – Tatsächlich will niemand Fakten checken. Aber jeder will gute Entscheidungen treffen…

Eigentlich sollte dieses Thema die Schlussfolgerung nach einer langen, langen Untersuchung von tausenden von Möglichkeiten von „Fact Checks“ werden. Doch in den letzten Tagen wurde Fact Checking wieder vermehrt ein Thema. Also: Das Beste zum Anfang.

Fakten sind wichtig, aber…

Selbstverständlich sollte niemand willkürlich Blödsinn in die Welt posaunen. Doch die verschiedenen „Kunstformen“ wie Haare spalten, Lügen mit Statistik und so weiter, und so weiter bauen alle auf den gleichen Prinzipien auf:

Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.

Epiktet ( griechischer Philosoph, um 50 – 138 n. Chr.)

Oder modernisiert: Nicht die Dinge, sondern ihre Meinungen von den Dingen bewegen die Menschen. Die Menschheit weiß das also seit rund 2000 Jahren und fällt immer noch darauf herein. Was ist also das Gegengift?

Fakten werden überbewertet…

Wenn man sich an das Epiktet-Zitat oben erinnert erscheint diese Überschrift wohl etwas daneben. Das ist gut, denn es macht wach.

In dem Epiktet-Zitat zielt das Fact checking auf die „Dinge“. Im Lauf der nächsten Wochen und Monate werden wir uns hier im Blog damit beschäftige, wie unglaublich schwierig die scheinbar einfache Frage ist, wie die Dinge sind.

Das Problem ist: Die Landkarte ist nicht das Gebiet. Egal wie präzise wir versuchen, etwas zu beschreiben: Es ist immer etwas anderes, als die Dinge selbst zu erleben. „Die Wahrheit“ ist, es selbst zu erleben. Alles andere ist nur eine mehr oder weniger gute Kopie.

Natürlich gibt es offensichtlich „weniger gute“ Beschreibungen. Ein Beispiel dafür ist: Niemand außer Donald Trump würde angesichts der Fotos z.B. hier auf den Gedanken kommen, es sei das größte Publikum gewesen, das je einer Amtseinführung beigewohnt habe. Die Aussage ist also schon ziemlich wenig gut, ehrlich: schlecht, sehr schlecht. Trotzdem kann man sich Aussagen ausdenken, die die Wirklichkeit noch schlechter darstellen: Dass niemand dort gewesen sei, oder alle lebenden Menschen, dass alle Ballettröckchen angehabt hätten oder dass das alles auf dem Mars stattgefunden habe oder – wie die Mondlandung – gar nicht.

Durch den Mathe-Unterricht in der Schule sind wir darauf getrimmt, „wahr“ und „falsch“ als schwarz-weiß zu sehen, obwohl uns die tägliche Anschauung immer wieder zeigt, dass „mehr wahr als…“ und „weniger wahr als…“ im Alltag nützlichere Beschreibungen sind. Ich glaube, diese Lücke zwischen Theorie und Alltag ist einer der Gründe, warum so viele Kinder Schwierigkeiten mit Mathe in der Schule haben.

Egal, wir schweifen ab, wir haben gerade mehr als genug Stoff gestreift für fünf bis zehn Blog-Beiträge. Zurück zu Epiktet: Natürlich kann man versuchen, sich auf „die Dinge“ zu stürzen und seine Meinung möglichst gründlich in Einklang mit „den Dingen“ zu bringen, und selbstverständlich ist das eine gute Idee – sowohl wenn man versucht, mit der Welt um uns herum umzugehen als auch wenn wir versuchen, die Welt für andere zu beschreiben.

Wir sollten nur nicht der Illusion erliegen, dass das irgendwann klappen könnte

Wir müssen in dieser Hinsicht immer damit leben, dass auch die beste Beschreibung Fehler hat. Die Frage ist also nicht: „Ding oder Meinung“. Es ist – gerade in praktisch relevanten Fällen aus Politik und Wirtschaft – immer eine Meinung.

Wenn nicht die Fakten, was dann???

Die Frage ist: Was verbirgt sich hinter dem Wörtchen „bewegen“…

Die Entscheidungstheorie kann uns da einen nützlichen Tipp geben: Mein Lieblingsbuch zum Thema

Eine Entscheidung ist eine Auswahl aus zwei oder mehr Möglichkeiten, die zu einer un-umkehrbaren Zuordnung von Ressourcen führt.

Howard, Abbas: Foundations of Decision Analysis

Der Haken an der Sache ist: Eine Entscheidung ist nur nötig im Angesicht von Unwissenheit. Wenn wir die Welt und den weiteren Verlauf der Dinge perfekt kennen, brauchen wir keine Entscheidung – es ist ohnehin klar, was passiert bzw. was zu tun ist.

Das ist eine Sichtweise, die sowohl zu unseren Überlegungen oben zu „auch die beste Beschreibung hat Fehler“ passt als auch zu der modernen Form des Epiktet-Zitates „nicht die Dinge, sondern ihre Meinungen von den Dingen bewegen die Menschen.“

Menschen bewegen etwas (also: sie treffen Entscheidungen) nicht auf der Grundlage dessen wie die Dinge sind (denn das ist nicht erreichbar), sondern auf der Grundlage einer möglichst präzisen „Meinung“ von den Dingen.

Je nachdem, welche Entscheidung wir treffen wollen und was wir noch wissen können Seltsamkeiten wie die Aussage über die Amtseinführung mehr oder weniger relevant sein.

Ein Beispiel

Zu der Frage, ob wir eine Geburtstagsparty morgen draußen oder drinnen abhalten ist diese Info – egal ob falsch oder richtig – nicht relevant. Der Wetterbericht wäre wichtig.

Interessanter wird es, wenn es um Fragen geht wie „können wir uns auf Donald Trump verlassen?“ oder „soll ich ihn wählen?“. Ein paar mögliche Trugschlüsse:

Zunächst: „Können wir uns auf Donald Trump verlassen?“ entspricht keiner Entscheidung, denn die Antwort auf die Frage hat keine unmittelbaren Konsequenzen. Natürlich wird diese Frage in der politischen Debatte so platziert dass ein „Nein“ darauf unmittelbar zu einem „Nein“ auf die zweite Frage führt. Die Frage „soll ich ihn wählen?“ dagegen korrespondiert sehr wohl zu diese Entscheidung, doch die zwingende Verknüpfung „WENN ich mich nicht auf ihn verlassen kann, DANN soll ich ihn auch nicht wählen“ ist formal ein Fehlschluss, ein rhetorischer Trick.

Wir können auch noch genauer hinschauen und uns fragen: Was bedeutet es, „sich auf jemanden zu verlassen“? – Würde ich ihm / ihr mein Auto leihen? Auf seine / ihre Empfehlungen hin Aktien kaufen, den Job wechseln oder oder oder? Würde ich ihm / ihr den „Football“ geben, den Startcode für den Abschuss der amerikanischen Atomwaffen? Fragen über Fragen. Zum Glück stellen sich all diese Fragen in der Praxis gar nicht!

Übrigens stellt sich auch die Frage „soll ich Donald Trump wählen“ nicht in dieser Form, als Ja/Nein-Frage. Praktisch stellt sich diese Frage als Frage: Soll ich Kandidat A wählen oder Kandidat B oder Kandidat C, und sogar wenn ich der Sichtweise folge „auf Kandidat A kann ich mich nicht verlassen, also muss ich jemand anders wählen“ kann das formal korrekte Vorgehen immer noch sein, Kandidat A zu wählen – nämlich dann, wenn aus ähnlichen oder anderen Gründen alle anderen Kandidaten noch weniger zuverlässig erscheinen.

Wie geht das alles jetzt wirklich?

Für den Einstieg ist im Decision-Analysis-Buch ein unglaublich nützliches Bild: Der Schemel guter Entscheidungen:

Der Hocker guter Entscheidungen

Dieses Bild zeigt alles, was man beachten sollte, um eine „gute“ Entscheidung zu treffen (und irgendwann kommt ein Blog-Eintrag, um zu erklären, was eine gute Entscheidung ist, aber wir schweifen schon wieder ab…)

  • „What you want“ ist das A und O guter Entscheidungen, und wir haben es bisher kaum gestreift: Angenommen es geht um die Frage, ob wir mit dem Auto oder mit dem Flugzeug von München nach Hamburg reisen wollen, dann ist das Ziel der ausschlaggebende Faktor für die Entscheidung. Die Unsicherheiten sind klein: Fahrtzeit, Kosten, subjektiver Komfort, Gepäckbedingungen, evtl. Mitreisende und so weiter sind gut greifbar. Aber:
    Ist es ein Geschäftstermin und ich muss so schnell wie möglich zurück? Wenn ich am gleichen Tag zurückfliege, ist auch das Gepäck ziemlich egal.
    Ist es ein Familienausflug, und ich will unterwegs die Landschaft genießen? Wenn eine vierköpfige Familie zelten will, ist Gepäck ein wichtiger Faktor.
    … und das sind nur zwei der eher offensichtlichen Szenarien. Die Menschen sind verschieden. Jedes Szenario ist anders, jedes Ziel ist anders.
  • „What you can do“, das eine Bein des Schemels, bezieht sich auf die Möglichkeiten, die wir haben.
    In den Beispielen oben haben wir beispielsweise nicht die Möglichkeit „Kandidat A Ja oder Nein“, sondern die Möglichkeiten „Kandidat A, Kandidat B oder Kandidat C“
  • „What you Know“ ist das (bewertete) Wissen über die Situation. Eine Meinung. Ein Modell. Fakten und Meinungen tauchen hier auf, und natürlich ist es immer besser, bessere Fakten zu haben. Aber, wie gesagt, Perfekte Fakten haben wir nie, also sollten wir lernen, auch unter Unsicherheit gute Entscheidungen zu treffen.
  • „Frame“ ist der Zusammenhang, in dem das alles stattfindet. Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob ich Aktien kaufe oder ob Warren Buffett Aktien kauft.
    Hier tauchen auch „Nebenwirkungen“ einer Entscheidung auf, beispielsweise könnte man anstreben, um das Klima zu schützen, PKWs einfach ab morgen verbieten. Doch wenn man den „Frame“ betrachtet, die „Nebenwirkungen“, die diese Entscheidung mit sich bringen würde, sucht man dann doch schnell mehr oder weniger gemäßigtere Ideen.
    Fairerweise muss man sagen: Was „Frame“ ist und was „Ziel“ liegt im Auge des Betrachters.
  • „Logic“ ist der Klebstoff, der das alles zusammenhält: Gute Logik (wir kommen noch dazu) verbindet was wir wissen mit was wir wollen, was wir können und dem Zusammenhang, und schließlich:
  • Der „committed decision maker“, der engagierte Entscheider, ist der, der die Entscheidung trifft – und dann auch durchzieht. Wenn alle anderen Elemente sauber betrachtet und mit guter Logik verknüpft sind, muss irgendjemand aus den verfügbaren Optionen wählen und die Ressourcen unumkehrbar zuordnen.

„Fertig… war doch ganz einfach.“ – Naja…

Werden Fakten überbewertet?

Hoffentlich ist jetzt nachvollziehbar, wie ich zu der Sichtweise komme, dass Fakten bzw. Fact Checking überbewertet sind: Sie sind nur eines von sechs Puzzleteilen, die man für gute Entscheidungen braucht. Zum Beispiel: Wen soll ich bei der nächsten Bundestagswahl unterstützen?

Brauchen wir wirklich Fact Checking? Oder wäre es nicht wichtiger, dass wir alle ein bisschen besser werden darin, Entscheidungen zu treffen?