Cargo Cult

Gerade jetzt in Covid-Zeiten begegnen mir ständig Menschen, die Anweisungen befolgen, ohne sie zu verstehen: Sie tragen eine Gesichtsmaske und nehmen sie zum Sprechen ab, sie selbst tragen Maske und Handschuhe und ihre Kinder nehmen alles in den Mund, oder sie tragen die Maske 24 Stunden am Tag, auch zu Hause, auch zum Schlafen.

Das muss aufhören. Nur … wie?

Es gibt eine schöne Geschichte, die Geschichte vom Cargo Cult, die uns erklärt, worauf wir achten müssen.

Anthropologie

In den 60’er Jahren war Anthropologie ein beliebtes Studienfach, und jeder Anthropologe wollte seine eigenen Entdeckungen machen. Nur… wo findet jeder Anthropologe sein eigenes unberührtes Volk?

Also gingen viele Anthropologen in den Pazifik, nach Mikronesien. Dort gibt es unzählige kleine bewohnte Inseln… da müsste doch für jeden etwas dabei sein. Oder?

Weit gefehlt.

Viele Völker mit ähnlichen Bräuchen!

Viele Anthropologen stellten fest, dass die Völker auf „ihren“ Inseln sehr ähnliche Gebräuche hatten.

Große, langgestreckte Ritualplätze mit Feuern an den langen Kanten.

Tempel mit einem großen Totempfahl auf dem Dach

Medizinmänner mit seltsamem Kopfschmuck

In den Tempeln seltsame Altäre, immer mit genau einem Ornament

Und den Brauch, dass der Medizinmann immer wieder auf diesem Ornament herumtrommelte.

Was war das?

Seltsame Erklärungen

Die Anthropologen waren ratlos. Aus anthropoligischer Sicht gab es nur zwei mögliche Erklärungen:

Das Ganze war einmal eine zusammenhängende Landmasse, mit einem Volk, das diese Landmasse bewohnte. Dieses eine Volk hatte natürlich eine Kultur, und die Ähnlichkeiten, die wir heute sehen, gehen auf diese ursprüngliche Kultur zurück.

Oder die „Primitiven“ konnten mit ihren Einbäumen doch deutlich besser miteinander kommunizieren, als die Anthropologen erwartet hatten. Der resultierende Austausch hat zu einer kulturellen Angleichung geführt.

Kann man kaum erfinden: Wie es wirklich war…

Tatsächlich war die Lage jedoch eine ganz andere:

Im 2. Weltkrieg hatten die Amerikaner und die Japaner in Mikronesien Krieg miteinander geführt. Dazu haben sie auf den Inseln Mikronesiens Stützpunkte aufgebaut. Und weil es viel spannender war, die jeweils „feindliche Hochkultur“ zu bekämpfen als die „primitiven“ Eingeborenen, haben sie die Eingeborenen bestochen, mit Spiegeln, Glasperlen und Schokolade.

Irgendwann war der Krieg vorbei. Die Stützpunkte wurden nicht mehr gebraucht und verlasen. Und für die Eingeborenen gab es auch keine Spiegel, Glasperlen und Schokolade mehr.

Also haben die Eingeborenen alles nachgebaut, so gut sie konnten:

Eine Landebahn für die Versorgungsflugzeuge

Eine Funkhütte mit großer Antenne

Kopfhörer für die „Funker“

Schreibtische mit Morsetasten

Und sie haben versucht, nach Nachschub zu morsen.

Es war perfekt. Es funktionierte nur nicht.

Sie haben alles richtig gemacht. Es war perfekt. Die Eingeborenen hatten die Äußerlichkeiten perfekt nachgebaut, es sah genau so aus wie vorher.

Es funktioniert nur nicht.

Wir wissen natürlich, dass das seinen Zweck nicht erfüllen kann. Die Eingeborenen können kein Flugzeug bauen. Sie haben keinen Strom, wissen nicht, was „Funk“ ist oder „Radiowellen“, und sie können auch das Morsealphabet nicht. Sie sprechen ja nicht einmal die richtige Sprache.

Aber wie sollten wir das einem Eingeborenen im Pazifik erklären? Er versteht ja die Grundlagen nicht, und die Grundlagen der Grundlagen auch nicht, und am allerwichtigsten: es interessiert ihn auch nicht.

Was interessiert, sind Glasperlen, Spiegel und Schokolade.

Es hat ihn nicht interessiert, als die Götter noch Glasperlen, Spiegel und Schokolade brachten, und die Grundlagen interessieren auch jetzt nicht. Was interessiert, sind Glasperlen, Spiegel und Schokolade.

… und die Moral von der Geschicht‘ ?

Ich bin weit davon entfernt, mich oder irgendeinen anderen modernen Mitteleuropäer mit einem mikonesischen Ureinwohner gleichzusetzen. Doch ein paar Parallelen gibt es doch:

  • Manchmal führen wir nur eine äußere Form aus, ohne zu verstehen, wozu es gut ist. Dann tragen wir beispielsweise eine Gesichtsmaske und lassen die Nase heraushängen oder nehmen sie zum Sprechen ab. Oder – getreu dem Motto „viel hilft viel“ – wir nehmen die Maske auch zu Hause nicht ab.
  • Manchmal interessieren wir uns nur für Glasperlen, Spiegel und Schokolade und versuchen, eine Abkürzung zu finden, die uns die Grundlagenarbeit erspart

Aber am wichtigsten:

Viel zu oft überprüfen wir nicht, ob das, was wir tun, funktioniert.

Dann belügen wir uns selbst (hübsch gesagt heißt das: „Wir rationalisieren“) und wiegen uns in der falschen Gewissheit: Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt.

Nachtrag: Im Kontext mit Covid ist das weitverbreitete Übel die Suche nach der Abkürzung, nach der einfachen Erklärung, nach dem einfachen Weg zurück zur „Normalität“.


Epilog

Ob die „Verpackung“ in die Anthropologie so richtig ist, weiß ich nicht mehr. Ich erzähle diese Geschichte in dieser Form schon so lange, um die Prinzipien von „schau, ob es funktioniert“, „schau hinter die äußere Form“ und „nimm die Grundlagen mit“ zu kommunizieren, dass ich gar nicht mehr weiß, wann welches Element entstanden ist. Fest steht: so ist es eine schöne Fabel, um diese drei Punkte für die Menschen annehmbar zu machen. Nennen wir das einmal „künstlerische Freiheit“. Der Kern von „Cargo Cult“ ist jedenfalls gut belegt, die Wikipedia-Seite „Cargo-Kult“ und „John-From-Bewegung“ zeigen verschiedene Varianten dieses Grundthemas.

Meine erste Begegnung mit „Cargo Cult“ im hier skizzierten Sinne geht zurück auf die CalTech-Rede von Richard Feynman hier: „Cargo Cult Science„. Es sind nur vier Seiten und unbedingt lesenswert.

Fall sich jemand an der Verwendung des Attributs „primitiv“ oben stören sollte, darf dieser jemand gerne in sich hineinhören, was die Geschichte mit ihm/ihr macht: Das Verhalten der „Primitiven“ ist zielgerichtet und konstruktiv, wenn auch nicht erfolgreich. Das der „Hochkulturen“ (bewusst in Anführungszeichen gesetzt) erscheint willkürlich.