Zwei Tage Verzögerung

Die Bundesregierung hat vom 13. März bis zum 16. März ein Wochenende Zeit verloren, um sich mit den Ländern abzustimmen bevor sie Maßnahmen wegen der Corona-Pandemie erlassen hat.

Das muss sich doch irgendwo in den Infektionszahlen niederschlagen, oder? – Ich habe das grob geschätzt. An der Oberfläche gekratzt haben diese zwei Tage zwischen 10.000 und 15.000 zusätzliche Infektionen verursacht. Stand heute (4. April 2020).

Jemand hat mich provoziert mit einer Aussage wie „wie geht es unserer Demokratie, wenn sie im Notfall Länder, Kreise und Gemeinden einfach so wegwischen kann?“ (Dass das nicht Demokratie ist sondern Föderalismus lassen wir mal beiseite). In meiner Wahrnehmung haben wir zwei Tage VERLOREN (13.->16. März) bis sich Bund und Länder geeinigt haben. Also habe ich das Ganze abgeschätzt:

Die Abschätzung

  • Ganz links stehen Tage. Tag 1 ist „über 100 Infizierte“.
  • Dann das Datum,
  • dann die Infektionszahlen der JHU1 (also gemeldete Erkrankungen)
  • dann das Ganze um 14 Tage nach hinten versetzt, also eine Annäherung an das tatsächliche Infektionsgeschehen.
  • dann das daraus errechnete tägliche Wachstum.
  • In der nächsten Spalte passiert’s: Ich habe die beiden Tage 14. und 15. März (rot markiert) gestrichen und alles nach oben geschoben als Annäherung für „Lockdown wurde am 13. März beschlossen“
  • unten in dieser Spalte habe ich die Tabelle mit dem Wachstumswert von gestern, 107,5%, aufgefüllt.
  • In der nächsten Spalte ist daraus dann das simulierte Infektionsgeschehen hochgerechnet.
Tabelle mit Zahlen wie im Blogpost beschrieben
Tabelle des Infektionsgeschehens wie im Blogpost beschrieben

Ergebnis: Zwei Tage Verhandlung zwischen Bund und Ländern haben uns UNGEFÄHR 11.000 zusätzliche Infektionen eingetragen. Das sind rund 10% der aktuellen Infektionen.

Die Corona-Parties

Da sich die Verhandlungen ausgerechnet über ein Wochenende hinzogen, haben (zu) viele überwiegend junge Menschen diese Gelegenheit für letzte Parties vor der Quarantäne genutzt, die sogenannten Corona-Parties.

In dieser Darstellung sind auch die Corona-Parties des Wochenendes sichtbar: Auch ohne die Interventionen der Regierung sind die Ausbreitungsraten in der Woche vom 7. bis 13. März deutlich zurückgegangen, von 125% bis 130% in der Woche davor auf 115% plus/minus. Dann ein Sprung, das Wochenende: 118%, 116%, 113%. Dann mit 108% unter die 110%-Marke.

Wenn man nur die 118% vom Freitag auf 114% setzt wie die Tage davor macht das heute einen Unterschied von ca. 3000 weiteren Infektionen aus.

Kritik

An diesem Modell kann man viel kritisieren.

Genau 14 Tage Zeitversatz beispielsweise, oder die stupide Anwendung der Exponenzialfunktion, oder die blödsinnige Annahme, dass das Infektionsgeschehen um zwei Tage versetzt genauso gelaufen wäre wie es tatsächlich war.

Der größte Kritikpunkt sollte allerdings nach wie vor die Qualität der Ausgangsdaten sein. Ein ausgefeilteres Modell pflanzt diese Fehler nur aufwändiger fort.

Die Abschätung der Auswirkungen der Corona-Parties sind noch gröber als alle anderen Schätzungen im Artikel.

Das Ziel der Berechnung ist nicht ein millimetergenaues Aufrechnen. Das Ziel der Berechnung ist, zu illustrieren, dass diese zwei Tage sehr, sehr, sehr teuer waren. Die eingesetzte Methode ist gut genug, um dieses Ziel zu erreichen.

Wer sich wirklich die Mühe machen will, findet in diesem Artikel eine gute Darstellung, wie die Modellierung der Ausbreitung von Epidemien „richtig“ gemacht wird. Die genauen Zahlen werden sich unterscheiden, qualitativ ist das Ergebnis oben solide.

Was bedeutet das?

Die Infektionszahlen selbst

Solange die Pandemie nicht „vorüber“ ist (was auch immer das genau bedeutet…), werden wir nicht beurteilen können, welche Infektionszahlen „wirklich“ auf diese zwei Tage zurückgehen.

Das liegt an der Natur der Exponenzialfunktion.

Ein Beispiel: Angenommen wir haben 10% tägliche Neuinfektionen.

Dann bedeutet ein Ausgangspunkt von 91.000 Infektionen (gemeldete Infektionen 3. April), dass morgen ca. 9.100 Infektionen dazu kommen.

Wenn allerdings der Ausgangspunkt bei 80.000 Infektionen läge wie es die Modellrechnung ergibt, kämen morgen ca. 8.000 Infektionen dazu.

Mit anderen Worten: diese zwei Tage führen bis auf weiteres jeden Tag zu mehr Neuinfektionen als im Szenario „Lockdown wurde am 13. März beschlossen“.

Der Lockdown

Auch wenn unsere Regierung das im Moment eher wachsweich kommuniziert, der Lockdown hat Ziele. Zum Beispiel:

  • Die „Nachfrage“ bei Krankenhäusern und Intensivstationen zu dämmen
  • Zeit zu gewinnen für Forschung an Therpien, Impfungen
  • Infrastruktur aufbauen: Masken und Desinfektionsmittelbeschaffen, und vor allem: neue Testzentren eröffnen
  • Daten zu erheben über das tatsächliche Ausmaß der Epidemie in Deutschland
  • … und noch etliche mehr …

Zeit gewinnen ist in der aktuellen Situation jedenfalls gut und wichtig und richtig. Aber vor allem sollte der Lockdown uns idealerweise in die Situation bringen, dass wir wieder jeden einzelnen Infizierten und seine Kontaktpersonen isolieren können anstatt pauschal ein ganzes Land voreinander zu isolieren einfach nur weil es so viele Infizierte gibt, dass wir sie gar nicht mehr individuell finden.

Wie lange dauert das?

Das kommt drauf an, wie viele infiziert sind.

10% Infektionen, die eigentlich hätten vermieden werden können, werden das sicher nicht beschleunigen. Wie auch bei den Infektionszahlen: das ist nicht einfach „vorne zwei Tage später zugemacht, dann machen wir eben zwei Tage später wieder auf.“

Man sieht es in der Tabelle sehr genau: Am 13. März, dem ersten Tag mit modifizierten Zahlen, beträgt der Unterschied „nur“ 3.500 Infektionen. Inzwischen ist der Unterschied auf 11.000 Infektionen angewachsen, und die Differenz wird weiter ansteigen.

Das bedeutet für die Dauer des Lockdowns keinen Unterschied von zwei, drei Tagen. Das bedeutet einen Unterschied von Wochen2.

Zusammenfassung

Wir werden nie genau erfahren, was diese zwei Tage bewirkt haben. Mit der Abschätzung in diesem Artikel kann man jedenfalls gut sehen, dass diese zwei Tage einen erheblichen Unterschied geschaffen haben, der uns durch die ganze Epidemie begleiten wird.

  1. ich verwende JHU-Daten statt RKI-Daten weil das RKI im Betrachtungszeitraum die Methode der Datenerhebung verändert hat
  2. das werde ich sicher nicht genauer abschätzen, das ist viel zu vage.