Die Bedeutung der Wahrheit

Wahrheit ist subjektiv. So weit, so gut. Doch wer denkt „weil Wahrheit subjektiv ist, muss ich mich um die subjektive Wahrheit anderer nicht kümmern“ macht einen Riesen-Fehler.

Du standest nicht im Stau.

Du warst ein Teil davon.

Vor einiger Zeit ist mir dieses Meme begegnet, und ich fand es herzlich lustig. So schön, so wahr, so reflektiert. Ob ich am Stau etwas ändern kann oder nicht, möchte ich erst einmal offen lassen. Ich kann jedenfalls anders darüber nachdenken.

Vor ein paar Tagen ist mir dann dieser Artikel hier untergekommen: „Wahrheit und Fake im postfaktisch-digitalen Zeitalter: Wie relativ ist die Wahrheit?

Dass Wahrheit etwas relatives ist, ist eine Behauptung, die ich schon seit ca. 30 Jahren vor mir hertrage. Vor allem im Kontext von „Fact checking“ ist das eine spannende Sache, denn das macht Fact checking wirklich schwierig: Wenn Wahrheit nicht schwarz oder weiß ist sonder „mehr wahr als…“ und „weniger wahr als…“ wird Fact „checking“ eine eigentlich unlösbare Aufgabe. Wenn die Politik jetzt von Firmen wie Facebook fordert, die Artikel auf Fakten zu checken, kann das nur in die Hose gehen.

Doch bei alledem bin ich doch Physiker geblieben: Auch wenn ich die Wirklichkeit nie mit absoluter Präzision in Worte fassen kann, ist sie doch irgendwie da, erlebbar. Für den Physiker bedeutet das: es gibt Messungen, die kann ich wiederholen und bekomme bei gleichen Bedingungen gleiche Ergebnisse. Solche Sachverhalte gibt es, und aus dieser Erkenntnis heraus kann man Taschenrechner bauen oder Autos oder Mondraketen.

Zusätzlich gibt es Sachverhalte, bei denen niemand zweimal die gleichen Bedingungen schaffen kann. Aber man kann sich dem wenigstens annähern. Die unglaublichen Einnahmen von Facebook und Google zeigen, dass menschliche Präferenzen und menschliches Verhalten als statistische Größe sehr wiederholbar sein können.

Und dann habe ich den obengenannten Artikel gelesen.

Ich war entsetzt.

Wir als Gesellschaft scheinen gerade den Anspruch aufzugeben, überhaupt nach einem gemeinsamen „Anker“ für die Wahrheit zu suchen. Da werden theoretische Unterscheidungen gemacht zwischen „Fake News“ und „Alternativen Fakten“, da wird über „durch die Kommunikationsindustrie geschaffene Hyperrealitäten“ philosophiert als ob es keinen Unterschied zwischen meiner VR-Brille und dem Sandkasten hinter dem Haus gäbe.

Es gibt die Geschichte von einem Zen-Mönch, der irgendwann stolz zu seinem Meister gelaufen kommt und sagt: „Ich habe es verstanden, Meister, die Dinge existieren nicht.“

Daraufhin schlägt ihn der Meister kräftig ins Gesicht und sagt:
„Wenn nichts existiert, warum tat dieser schlag weh?“

Die Bedeutung der Wahrheit

Doch auch wenn Wahrheit subjektiv ist, so ist sie doch das Fundament für jede Kommunikation. Analog zum Meme über Staus oben:

Der andere hat nicht „seine subjektive Realität“, ich bin ein Teil davon.

Ich habe nicht „meine subjektive Relaität“, alle anderen sind ein Teil davon.“

Egal wie „Wahrheit“ definiert ist – um mit anderen zu kommunizieren, muss ich mit ihnen „in der gleichen Welt“ leben, oder wenigstens einen ausreichenden Überlapp annehmen. (Das Wort „annehmen“ sollte hier so verstanden werden wie „akzeptieren und sich zu eigen machen“)

Im Kern steckt das in den Kommunikationsaxiomen von Paul Watzlawick: „Kommunikation hat eine Inhalts- und eine Beziehungsebene“, und die Voraussetzung für eine Beziehung ist, dass man über die gleichen „Dinge“ redet.

Ein Beispiel

Wenn wir auf die richtige Weise hinschauen, können wir das in der aktuellen Polarisierung der politischen Landschaft sehen.

In meiner Kindheit war es noch so: „wir alle“ standen vor einer Situation, und die Roten hatten ein Rezept und die Schwarzen ein anderes.
Heute erleben sich „die Roten“ in einer Wirklichkeit, und „die Schwarzen“ in einer anderen, weitgehend disjunkten. Damit gibt es keine Gesprächsbasis mehr, eine erfolgreiche Verhandlung ist nicht mehr möglich.

Scheinbar bricht unsere Gesellschaft gerade mit der Aufklärung, mit der Idee dass es einen objektiven „Anker“ gibt („die Wirklichkeit“), an dem man Wahrheit messen kann. Die Grenze zwischen „Fakt“ und „Deutung“ ist nicht verschwommen, stattdessen werden „objektive Fakten“ einfach ignoriert.

Wir sind auf dem Weg zurück ins Mittelalter, als die „Forscher“ an der Tafel saßen und über die Zahl der Zähne der Pferde nachdachten. Doch keiner kam auf die Idee, in den Stall zu gehen und nachzuschauen.

Oder in eine Zeit, in der die Priester postulierten „Die Sonne dreht sich um die Erde“, und wer – wie Galilei oder Kepler – daran zweifelte, wurde der Inquisition übergeben.

Wo führt das nur hin?

Meine „Geheimwaffe“ für verteilte Teams war immer ein falsch erinnertes Watzlawick-Zitat:

“Mutual accusations of madness and badness” sind ein Zeichen für kaputten Kontext. Das Problem liegt nicht auf der Ebene der Inhalte, sondern auf der Ebene des Kontexts.

(Im Konzern-Zusammenhang habe ich immer „madness“ mit „hat keine Ahnung“ und „badness“ mit „spielt politische Spielchen“ gleichgesetzt und konnte so in verteilten Teams auch hartnäckige Komflikte auflösen, indem ich so lange den Kontext thematisiert habe, bis ich die abweichenden Annahmen explizit hatte – dann hat sich alles in Wohlgefallen aufgelöst, oft innerhalb weniger Minuten.)

Inzwischen habe ich das echte Zitat gefunden: „Unresolved discrepancies in the punctuation [… lead to …] mutual charges of madness and badness …” – also Abweichungen in der Betonung – oder eben in der Art, wie wir die Fakten lesen.

(Im Beispiel im Buch wurde Watzlawicks Aussage „My name is Watzlawick“ missverstanden als „My name is not slavic“, und von da ab ging’s bergab bis Watzlawick für einen neuen psychotischen Patienten gehalten wurde anstatt für einen Kollegen).

Wenn man die aktuellen gegenseitigen Anschuldigungen zwischen bspw. „Klimaleugnern“ und radikalen Dekarbonisierungsvertreten mit dieser Brille liest, stellt man sofort fest: Mutual charges of madness and badness…

Diese Menschen leben nicht in einer subjektiven Realität und sind verschiedener Meinung, sondern sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten und können deshalb nicht mehr kommunizieren oder verhandeln.

Zusammenfassung

Im Krieg um die Deutungshoheit ist der Bezug zur Wirklichkeit verloren gegangen. Wenn wir die Welt friedlich und konstruktiv halten wollen, müssen wir wieder lernen, gemeinsame Realitäten anzuerkennen.

Oder umgekehrt: Wenn sich der Trend der rücksichtslos subjektiven Realitätsbildung fortsetzt, laufen wir auf ein Zeitalter von gewalttätigen Konflikten zu, wie wir sie schon sehr lange nicht mehr in Europa hatten.