Es ist wahrscheinlich die Frage des Jahres 2020, jedenfalls der ersten Jahreshälfte. Von „ist wie Grippe“ bis „koste [die Eindämmung], was es wolle]“ ist alles vertreten.
Der Gedanke an diesen Artikel beschäftigt mich schon lange, die Frage wird ja auch immer wieder gestellt: Wenn bspw. die Heinsberg-Studie zu dem Ergebnis kommt, dass wir schon viel mehr Erkrankte in Deutschland hatten, als die offizielle Statistik ausweist – ist das dann alles wirklich so schlimm?
Eigentlich wollte ich die folgenden Themenfelder besprechen:
- Wie akut-gefährlich ist die Krankheit?
- Wie gefährlich sind die Spätfolgen?
- Gibt es Immunität?
Doch in den letzten Tagen gab es von drei großen Tageszeitungen Schlagzeilen zu einem Thema, der sogenannten „Übersterblichkeit“. „Übersterblichkeit“ ist eine Betrachtung der gesamten Todesfälle in einer Region (z.B. Deutschland) in einem Zeitfenster (z.B. März 2020) im Vergleich zu den Vorjahreszeiträumen (z.B. März 2017, 2018, 2019).
Umgangssprachlich gesagt: Die Statistik der letzten Jahre zeichnet einen gewissen Korridor, in dem diese Werte „normalerweise“ liegen. Da gibt es Interpretationsspielräume (z.B. wie viele Jahre schauen wir zurück), das bedeutet: wenn die Zahlen ungefähr im Korridor liegen, ähnelt das Ganze Kaffeesatzleserei.
Krasse Ausreißer dagegen springen ins Auge. Man weiß nur anhand der Zahlen natürlich nicht, was passiert ist (es könnte ja z.B. auch eine Häufung von Autounfällen sein), aber in der aktuellen Landschaft bietet sich selbstverständlich an, eine gewisse Übersterblichkeit Covid zuzuschreiben.
Diese drei Zeitungen haben jetzt die Übersterblichkeiten analysiert:
- Die New York Times: „36,000 Missing Deaths: Tracking the True Toll of the Coronavirus Crisis„
- The Economist: „Tracking covid-19 excess deaths across countries„
- Die Financial Times: „Global coronavirus death toll could be 60% higher than reported„
Die Titel der Artikel lassen ahnen, was Sache ist: Insgesamt haben die drei Artikel elf Länder, drei Regionen und neun Städte untersucht. Der Eindruck ist:
Die Zahlen sind erschütternd hoch.
Mit Ausnahme von Österreich und Dänemark gibt es keinen Zweifel an einer außergewöhnlichen Übersterblichkeit, die den „Korridor“ sprengt“, und auch in Österreich und Dänemark ist die Übersterblichkeit in der Statistik gut erkennbar, wenn auch nicht so offensichtlich außerordentlich.
Die Zahlen sind noch nicht wirklich belastbar, unter anderem weil sie ungewöhnlich früh veröffentlicht wurden, es kann also durchaus sein, dass die Zahlen noch leicht nach oben korrigiert werden.
Sicher sind nicht alle diese Fälle durch Covid verursacht: Gerade in Ländern, in denen das medizinische System überlastet wurde wie in Italien muss man auch damit rechnen, dass „normale“ Erkrankungen nicht mehr adäquat behandelt wurden.
Umgekehrt hat der Lockdown mit Sicherheit auch zu einem Rückgang von anderen Todesursachen, z.B. Verkehrsunfällen, geführt.
Für mich ist damit die Frage „wie gefährlich ist Covid“ eigentlich beantwortet: Es gibt nicht nur eine Dunkelziffer bei den Infektionen, es gibt auch eine (große) Dunkelziffer bei den Sterbefällen. Wenn man jetzt, wie in der Heinsberg-Studie, die tatsächlichen Infektionsfälle mit den Sterbefällen in Bezug setzt, darf man dafür nicht die gemeldeten Covid-Sterbefälle verwenden, sondern man sollte die Übersterblichkeit dafür heranziehen.
Da die tödlichen Covid-Ausgänge gegenüber den „geheilten“ Verläufen noch einmal ein bis zwei Wochen länger dauern, ist die Praxis des deutschen Statistischen Bundesamtes sehr interessant: Sie haben eine Zwischenauswertung mit Stichtag 15. März veröffentlicht (d.h. Infektionsdatum ca. 22. Februar – 23 Tage vorher), so dass wir quasi eine „Nulllinie“ haben: so war es „vor“ Covid, so ist es „mit“ Covid.
Die anderen Themen folgen im Lauf der Zeit.